Gibt es Mikroben, die man schützen muss?

Tiere und Pflanzen, die selten und vom Aussterben bedroht sind, versucht man zu schützen, oder sie werden zumindest in die Rote Liste bedrohter Arten aufgenommen. Eine Rote Liste für Bakterien und Archaeen gibt es nicht. Aber Sammlungen von lebenden Mikroorganismen verwahren Tausende von Mikrobenstämmen, um sie für vergleichende Untersuchungen weltweit Forschern zur Verfügung stellen zu können. Die Wahrung der Biodiversität steht dabei nicht im Vordergrund, auch wenn sich unter den Stämmen wahre Exoten befinden.
Ob einzelne Bakterienarten oder Archaeen vom Aussterben bedroht sind, können Mikrobiologen kaum beantworten. Es fehlt der Überblick über das weltweite Vorkommen von Mikroben. Auch kennen wir die meisten Mikroben noch gar nicht. Aber manchmal werden drastische Konsequenzen deutlich, wenn eine Mikrobenart aus einem Lebensraum verschwindet. So führte der menschengemachte Rückgang des Cyanobakteriums Nostoc flagelliforme buchstäblich zur Verwüstung einer Landschaft.


Nostoc flagelliforme lebte immer in großen Mengen auf den ariden Steppen und in den Bergregionen mehrerer Provinzen Nord- und Nordwest-Chinas. Es wächst zu Spaghetti-ähnlichen langen, dünnen Fäden und liegt in Knäueln auf dem Steppenboden (Abbildung). In Asien ist es als Haarmoos, Haarkraut oder Haargemüse bekannt und wurde schon seit hunderten von Jahren von der Landbevölkerung gesammelt, als Lebensmittel genutzt und gehandelt. Facai lautet die einheimische Bezeichnung (auf Mandarin) für das Haargemüse, und sie klingt so ähnlich wie ein Gruß und Wunsch zum chinesischen Neujahr („werde glücklich und reich“). Daraus entwickelte sich die Tradition, facai in einer Suppe als Neujahrsspeise zu reichen. Chinesische Restaurants übernahmen das Rezept in ihre Speisekarten und so sammelten die Steppenbewohner immer mehr des Haarmooses. Denn es ließ sich nicht künstlich zu langen Fäden züchten. Die Nachfrage stieg seit den 1970er Jahren immer stärker, der Nachschub wurde knapper, und der Preis kletterte im Jahr 2000 auf über 120 Dollar pro Kilo. Nostoc, alias facai, wurde zum Genussmittel. Dann verbot plötzlich die Regierung unter Androhung und Umsetzung drastischer Strafmaßnahmen das wilde Sammeln und stellte Nostoc flagelliforme unter Schutz.

Cyanobakterien besitzen nämlich eine besondere Fähigkeit, die nur bei Bakterien vorkommt. Sie können Luftstickstoff (N2) binden und zu Ammonium (NH4+) umwandeln, das für den Aufbau von Aminosäuren, Nukleinsäuren und vielen anderen Biomolekülen gebraucht wird. Stickstoffsalze sind in der Steppe rar und so gediehen Gras und andere Pflanzen nur, solange Nostoc den Boden ausreichend mit organischem Stickstoff düngte. Das exzessive Absammeln der Bakterienkulturen ließ den Boden verarmen, Gras und Pflanzen gingen zurück, der Boden erodierte und fast 20 Prozent der Steppe in der Inneren Mongolei wurden zur Wüste. Als Stürme immer mehr Sand nach Beijing und Shanghai wehten, begann man nach dem Grund zu suchen.

Übrigens kann man immer noch facai oder fat choi (kantonesisch) in Restaurants bestellen. Nostoc flagelliforme wurde stillschweigend durch gefärbte Stärkefäden ersetzt.

Zum Weiterlesen:

Mikrobe des Jahres 2014: Nostoc

H. Engelhardt (2014) Mikrobe des Jahres 2014.
Nostoc – Vom Weichensteller der Evolution zum Genussmittel. Rundschau für Fleischhygiene und Lebensmittelüberwachung 7/2014, 245-248

H. Engelhardt (2014) Nostoc – Multitalent mit bewegter Vergangenheit. Biospektrum 2/14, 234-235.

© Text Harald Engelhardt / VAAM, engelhar[at]biochem.mpg.de, Nutzung gemäß CC 4.0
Abbildung: Das Cyanobakterium Nostoc flagelliforme, auch "Haarmoos" oder "Haargemüse", © X. Gao et al. (2016) Nutzung gemäß CC 4.0